Screenshot/YouTube SWR
Ein Autofahrer filmt während der Fahrt mit einem Smartphone eine Unfallstelle.

Schaulust als Schockbewältigung?

Gaffen, aber nicht helfen: Ist die Schaulust ein „normales“, menschliches Verhalten oder eine abnormale Persönlichkeitsstörung?

Zuletzt aktualisiert am 12.01.2024

Schaulustige, die einen Unfall aus nächster Nähe beobachten, Fotos und Videos von den Opfern machen und dabei auch noch die Hilfe-Maßnahmen behindern. Gaffer, die nach Unfällen die Einsatzkräfte daran hindern, den Unfallopfern rasch zu helfen, stellen ein ernstzunehmendes Problem dar. Wir haben uns auf die Suche nach Erklärungsversuchen für dieses Verhalten mancher Menschen gemacht.

Ist es „normal“ als Schaulustiger bei einem Unfall zu gaffen?

Manche Psychologen bewerten die Schaulust als angeborene Neugier und „Informationsinteresse“. Auch das Bedürfnis, sich der eigenen Unversehrtheit zu versichern, indem man das Leid anderer hautnah miterlebt, wird als Grund angeführt. Folgt man dieser These, könnte der Drang zu „Gaffen“ bis zu einem gewissen Grad als „normales“, menschliches Verhalten bewertet werden. Allerdings bestehen offensichtlich gravierende Unterschiede bei der Fähigkeit von Menschen, diesem Drang ungehemmt nachzugehen, oder diesen Drang unterdrücken zu können.

Der Bystander-Effekt

Auch der sogenannte „Zuschauereffekt“ (auch bekannt als „Bystander-Effekt„) wird in diesem Zusammenhang immer wieder erwähnt. Dieser Effekt beschreibt das Phänomen, dass die Anzahl der hilfsbereiten Menschen abnimmt, je mehr Zuseher sich rund um einen Vorfall versammeln. Anders ausgedrückt: Je mehr Unfallzeugen es gibt, desto weniger fühlt sich offenbar der einzelne „Zuseher“ angesprochen, aktiv einzuschreiten und zu helfen.

„Gaffen statt helfen“ ein Experiment der hessenschau

Verschlimmerung der Schaulust durch Medien bzw. soziale Medien?

Die oftmals aufgeworfene These, dass die sozialen Medien bzw. jederzeit verfügbare Handykameras einen Einfluss auf das Verhalten von Schaulustigen haben, wird zum Teil sehr kontrovers diskutiert. Hat der Drang, sich selbst durch verstörende Fotos und Videos von Unfällen auf Facebook, Twitter oder anderen sozialen Netzwerken in den Mittelpunkt zu stellen, die Hilfsbereitschaft der Menschen verdrängt?

Meinungen der Experten gehen auseinander

Heinz Wittenbrink, Lehrender für Onlinejournalismus und soziale Medien an der FH Joanneum in Graz, sieht in einer Anfrage der Tageszeitung derStandard keinen direkten Zusammenhang zwischen solchem asozialem Verhalten und Onlinemedien bzw. Handykameras: „Dass Onlinemedien oder Handys darauf Einfluss nehmen, wie man sich in einer solchen Situation benimmt, stimmt nicht“ (Hier der Beitrag). Vielmehr seien andere Faktoren, wie etwa Abneigung/Hass auf bestimmte Gruppen, entscheidend für das Verhalten. Wittenbrink verweist dabei auch auf Studien, die zeigen, dass die Situation in den USA offenbar schlimmer geworden ist, in Kanada aber hingegen besser.

Eine andere Meinung vertritt hingegen Raimund Schweigerlehner, Polizist der Landesdirektion Niederösterreich. In einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Profil“ aus dem Jahr 2017 (Hier der Beitrag) meint Schweigerlehner: „Die Schaulustigen hat es immer gegeben, die sind immer herumgestanden. Aber mit den neuen Technologien – dadurch, dass man mit Smartphones alles sofort online stellen kann – ist es einfacher geworden. Auch die Unverschämtheit ist größer geworden“ und: „Die Menschen denken nicht nach was sie da machen, da muss man sich auch fragen in welcher Gesellschaft wir leben“.

Auch die Pressesprecherin der Berufsrettung Wien, Corina Had, ist der Meinung (Interview Profil, 2017), dass es zwar nicht neu sei, dass Menschen bei Unfällen zusehen, aber “ mit der fortschreitenden Technik werden die Leute nochmal etwas mehr angefeuert, zu fotografieren“.

Schaulustige als Sadisten und Narzissten?

Laut dem Gerichtspsychiater Reinhard Haller spielen neben der Neugierde und der Lust am Schauen noch andere menschliche Wesenszüge eine Rolle. In einem Interview mit dem Standard (Hier das Interview) führt Haller aus, dass sich die Gesellschaft, seinen Schätzungen zufolge, in zwei Hälften einteilt: In Gaffer, und in jene, die sich sozial verhalten.

Narzisstische Aspekte

Bei den Schaulustigen können Haller neben den naheliegenden Motiven wie Neugierde und „Lust“ am Schauen auch narzisstische Aspekte den Ausschlag für das Gaffen geben: „der selbstheilende, selbstrettende Aspekt: Man ist der Gesunde und hebt sich so ein Stück weit empor über den Anderen“.

Sadistische Persönlichkeitszüge

Aber auch sadistische Persönlichkeitszüge können eine Rolle spielen. Der Gerichtspsychiater im Wortlaut: „Wer stark sadistische Züge hat, die er sonst nicht auslebt, kann sie so (durch das Gaffen, Anm. d. Red.) ausleben. Das ist auf jeden Fall die bessere Lösung, als wenn er selbst jemanden zu Tode quält.“

Schaulust als Schockbewältigung?

Zwei weitere Gründe für schaulustige Menschen kennt der Verkehrspsychologe und klinische Psychologe Wolf-Dietrich Zuzan: Die Suche nach Information und Schockbewältigung. (Interview Profil, 2017)

Bedürfnis nach Information

Obwohl beispielsweise Autofahrer, die an einer Unfallstelle vorbeikommen, nicht selbst unmittelbar von diesem Unfall betroffen sind, entsteht laut Zuzan innerlich unmittelbar das Bedürfnis nach Information: Was ist hier passiert? Bin ich selbst dadurch in Gefahr? Wie wäre es, wenn mir das passiert wäre? Diese Auseinandersetzung mit der Situation dient, so Zuzan, ebenso der eigenen Schockbewältigung wie das „Einfangen“ (also z.B. Fotografieren) und „Weitergeben“ der Situation an andere Menschen.

Dass diese eigene Schockbewältigung hinderlich für Opfer und Rettungskräfte ist, dürfte den wenigsten „Gaffern“ in dem Moment bewusst sein. Dennoch sollte ein geistig gesunder Mensch im Normalfall in solch einer Situation in der Lage sein, die eigenen Bedürfnisse vorläufig zu unterdrücken, weiterzufahren bzw. Hilfe zu organisieren und zumindest die Rettungskräfte nicht zu behindern.