The Road Movie: Russlands Straßen dank Dashcams im Brennglas Kalashnikovs
The Road Movie von Dmitrii Kalashnikov läuft diese Woche in den amerikanischen Kinos an. Es ist ein 67-minütiger Zusammenschnitt russischer Dashcam-Videos.
Am Ende hatten wir also doch Recht. Seit Jahren betreiben Internetseiten mit russischen Dashcam-Videos übelsten Clickbait auf niedrigstem Niveau. Wir auch. Natürlich kann man sich, betrunken von der Sensationsgier, einreden, man schaue die Videos ironisch oder postironisch oder was auch immer der Zeitgeist gerade an Ausflüchten hergibt. Die Wahrheit ist aber, dass diese Videos die niedrigsten Instinkte bedienen und auf der Jagd nach Kurzweil eine leichte Beute sind.
Dashcam-Videos als Kunstform
Doch das Phänomen hat sich verselbstständigt, wuchs über sich hinaus und kann jetzt sogar als eine Art Kunstform verstanden werden. Das mag sich hochgegriffen anhören, doch zumindest hat es Dmitrii Kalashnikov mit seinem Film The Road Movie in die amerikanischen Kinos geschafft. Dabei ist sein Machwerk nicht mehr als ein 67 Minuten langer Zusammenschnitt russischer Dashcam-Videos.
Zu sehen sind Mordversuche, Waldbrände, Panzer in der Waschanlage, Verbrechersyndikate, Bären, Explosionen und natürlich das berühmte Meteoriten-Video aus dem Jahr 2013. Dazu kommen jede Menge menschliche Abgründe, gescheiterte Existenzen und Kaltverformung.
Faszination der Outlaws
Doch die Faszination für die Dashcam-Videos geht tiefer, als es auf den ersten Blick scheint. Die reine Existenz dieses Kinofilms ist für diese These Beweis genug. Ein Grund dafür könnte das nun schon Jahre andauernde Siechtum Hollywoods sein. Die Traumfabrik weiß außer Fortsetzungen, Reboots, Nostalgie und Superhelden nichts massentaugliches mehr zu produzieren. Es ist dieses Fundament, auf dem der Erfolg von Netflix, Amazon und anderen Anbietern steht, die mit Eigenproduktionen ab dem kommenden Jahr auch bei den Oscars mitmischen werden.
Ein weiterer Grund für den plötzlichen Hype um The Road Movie (immerhin ist der Film bald zwei Jahre alt) dürfte sein, dass dieser Streifen viel ist, aber sicher nicht langweilig. Vielmehr ist es eine Aneinanderreihung emotionaler Höhepunkte, die sich dem klassischen Spannungsbogen völlig entzieht und auf einer Tsunamiwelle der Reizüberflutung auf den Zuseher einbricht. In Summe ist es ein deutliches Zeichen für die Zukunftsfähigkeit solcher viraler Videos (und der entsprechenden Plattformen, auf denen sie zu finden sind).
Fiktion und Wirklichkeit
Und last but not least speist sich der Erfolg von The Road Movie natürlich auch aus dem eklatanten Widerspruch zwischen dem Bild, dass die russische Regierung von ihrem Volk zeichnen möchte und der Darstellung dieses Volks im Video. Zu sehen sind keine stolzen Helden und Arbeiter. Zu sehen sind, bei allem Respekt, Menschen, die in den wenigen Sekunden, in denen sie zu sehen sind, rüber kommen wie Idioten, gescheiterte Existenzen, Psychopathen, Alkohol- und/oder Drogenabhängige.
Dass es so viele russische Dashcam-Videos gibt ist dem dortigen Zustand des Verkehrssystems in seiner Gesamtheit geschuldet. Die Besitzer von Dashcams wollen sich damit schützen. Denn gerade Fahrer alter Autos genießen lediglich einen sehr rudimentären Rechts- und Unfallschutz, der zudem sehr teuer ist. Im Gegenzug sind besagte Dashcam-Videos vor Gericht als Beweismittel zugelassen. Damit sollen Korruption, Faustrecht und Vetternwirtschaft eingedämmt werden. Oft werden die Aufnahmen von Fahrern auch eingesetzt, um willkürlichen Strafbefehlen von Polizisten zu entgehen.
Aber vielleicht wollen wir uns auch nur unseren eigenen Clickbait schön schreiben. Hat es funktioniert?